Begegnungen ermöglichen – Berührungsängste abbauen


Junge Jüdinnen und Juden von Meet a Jew zu Gast an der IGS

Jüdisches Leben und Kultur sind in mehreren Jahrgängen ein wichtiges Thema im Religions-, Ethik- und auch im Geschichtsunterricht der Mittelstufe. Die Schülerinnen und Schüler der IGS Schlitzerland wissen somit durchaus schon gut Bescheid über koscheres Essen, Gebetskleidung oder einige wichtige jüdische Traditionen und Feste. Doch einen Juden oder eine Jüdin kennengelernt haben bisher die wenigsten Kinder und Jugendlichen, die an der IGS Schlitzerland zur Schule gehen.

Das hat sich nun geändert: Alle vier Klassen des diesjährigen Jahrgangs 8 hatten die Chance, erstmals an dem seit 2020 bestehenden Begegnungsprojekt des Zentralrats der Juden Meet a Jew teilzunehmen. Im Rahmen dieses Projekts besuchten junge Jüdinnen und Juden die Klassen –  aufgrund der Corona-Pandemie ausschließlich im virtuellen Raum – um aus ihrem Leben und von ihrer Kultur zu berichten, miteinander ganz bewusst ins Gespräch zu kommen und die Fragen der Jugendlichen aus ihrem persönlichen Blickwinkel authentisch zu beantworten. Dabei steht für die Ehrenamtlichen von Meet a Jew bei ihrem Engagement bewusst nicht die Geschichte im Vordergrund, sondern der lebendige Alltag von Jüdinnen und Juden heute – auch wenn man diesen wichtigen Aspekt in den Gesprächen natürlich nicht komplett ausblenden kann und will. Bei den einstündigen Begegnungen am 14. & 15. Juni haben die Schülerinnen und Schüler drei unterschiedliche junge Menschen mit ihren persönlichen Lebensgeschichten kennengelernt:

Am Montag waren Rebecca und Jakob bei den Klassen 8.1 & 8.2 virtuell zu Besuch. Beide jungen Erwachsenen sind neben ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit bei Meet a Jew auch noch im jüdischen Jugendzentrum aktiv und betreuen Ferienfreizeiten ans Meer und in die Berge. Die 19 Jahre alte Frankfurterin Rebecca, die gerade ein freiwilliges soziales Jahr in einer Psychiatrie absolviert, ist in zwei Religionen sozialisiert worden. Ihr Vater ist katholischer Christ und ihre Mutter ist Jüdin, sodass sie ihrer Kindheit sowohl in der Kirche als auch der Synagoge an Gottesdiensten teilgenommen hatte. Im Alter von 14 Jahren bekannte sie sich offen zu ihrer Religion und sieht sich selbst seitdem als Jüdin. Sie führt ein aus ihrer Sicht normales Leben, trifft sich gerne mit ihren Freunden und Freundinnen und hat einen sehr gemischten Freundeskreis aus jüdischen und nichtjüdischen jungen Menschen.

Als einzige Jüdin auf einer katholischen Privatschule war es für sie nicht leicht, diesen Schritt zum offenen Bekenntnis zum Judentum zu vollziehen. Rebecca geht heute sehr offen mit ihrer Religion um, trägt ihren Davidstern an einer Kette mit Stolz und feiert alle jüdischen – aber auch alle christlichen – Feste, sodass in ihrem Alltag Chanukka und Weihnachten wie selbstverständlich nebeneinanderstehen. Seit 2016 engagiert sie sich im Bereich der Begegnungen und wünscht sich, dass die Menschen insgesamt offener werden und weniger in schwarz und weiß denken. Ihr Engagement für das Begegnungsprojekt reicht so weit, dass sie sich für die Begegnungen an der IGS sogar aus ihrem Hotelzimmer aus dem Mallorca-Urlaub zugeschaltet hat.

Rebecca berichtete den Achtklässlern davon, dass ihre jüdischen Großeltern lange Zeit auf der Flucht vor dem Holocaust waren und ihr Großvater nur knapp einem Schicksal im Konzentrationslager entgehen konnte. Leider hat sie selbst bereits häufig Erfahrungen mit antisemitischen Anfeindungen gemacht, wobei sich die meisten davon in den sozialen Netzwerken wie Instagram oder TikTok abspielen. An ihrem 18. Geburtstag hat sie zudem eindeutig antisemitische Zeichen an ihrem Elternhaus vorgefunden, deren Ursprung bis heute nicht geklärt werden konnte. Diese Erfahrungen schockieren Rebecca und machen sie traurig, aber auch stärker: „Warum soll ich meine Religion verstecken? Wir sind alle Menschen und haben die gleichen Rechte. Ich möchte mich dafür engagieren, dass die Welt ein Stück besser und toleranter wird und dafür mache ich bei Meet a Jew mit.“

Der zwanzigjährige Jakob, dessen Familie aus Georgien stammt, hat nach dem Abitur ein freiwilliges soziales Jahr in Israel absolviert und studiert derzeit Psychologie in Wien. Er wünscht sich, dass es keine Rolle spielt, ob jemand als Jude, Christ, Moslem oder Atheist lebt. Selbst gab er jedoch im Gespräch zu, dass er in einer „Jewish Bubble“ lebt, also hauptsächlich den Kontakt zu seinen jüdischen Freunden und Freundinnen pflegt. Dies hängt stark damit zusammen, dass er eine jüdische Schule besucht hat und daher viele seiner Schulfreunde so wie er jüdisch sind.

Jakob arbeitet bei Meet a Jew mit, weil er es fördern und ermöglichen möchte, dass sich die Menschen in unserer pluralistischen Gesellschaft gegenseitig in praktischen Erfahrungen kennenlernen und dabei Vorurteile abbauen können. Er bedauert es sehr, dass heutzutage immer noch offener und auch zunehmend „versteckter“ Antisemitismus mittels Israelkritik geäußert wird und hat sich bereits im Holocaust-Museum in Israel ein Bild vom Ausmaß der Judenverfolgung gemacht, was ihn sehr schockiert hat und betroffen gemacht hat. Er bestärkte die Jugendlichen, sich in ihrem Leben für Andere stark zu machen und Anfeindungen gegen Freunde und Verwandte niemals zu tolerieren.

Am Dienstag wirkte Rebecca erneut an den Begegnungen mit den Klassen 8.3 und 8.4 mit. Zusätzlich lernten die Schülerinnen und Schüler den 21jährigen Wirtschaftsinformatikstudenten Jonatan kennen, der derzeit in Berlin lebt. Er beschreibt sich selbst als nicht streng gläubig, geht eher an höheren jüdischen Feiertagen wie Jom Kippur in die Synagoge und isst bis auf den Verzicht auf Schweinefleisch und Schalenfrüchte nicht koscher – er hält sich also nicht komplett an die jüdischen Speisegesetze. Die Wortschöpfung ‚Weihnukka‘ – eine Mischung aus den beiden Festlichkeiten ‚Weihnachten‘ und ‚Chanukka‘ – wird den Jugendlichen sicher noch im Ohr bleiben. Auch Jonatan ist, wie bereits Jakob, in einem vorwiegend jüdischen Umfeld aufgewachsen und hat bis zur Oberstufe eine jüdische Schule besucht. Er unterstrich während der Begegnung, dass der Zusammenhalt in der jüdischen Volksgemeinschaft für ihn etwas ganz Besonderes ist, das er sehr genießt und schätzt.

Auch er bekräftigte, dass Vorfälle wie der Anschlag in Halle 2019 in ihm Wut, Trauer und Angst ausgelöst haben und er sich scheut, in der Öffentlichkeit offen seine Religion zu zeigen, indem er beispielsweise seine Kippa nicht öffentlich trägt. Seiner Meinung nach ist Antisemitismus immer noch sehr präsent und ein Thema, zu dem man präventiv arbeiten und auch dagegen ankämpfen sollte. „Wir sind genauso wie ihr. Wir feiern gerne, unterhalten uns über alles Mögliche, gehen mit unseren Freunden etwas essen oder ins Kino. Wir haben ähnliche Hobbys und uns machen die gleichen Dinge Spaß.“ Er erzählte sehr lebhaft von seiner Bar Mizwa, die im Christentum mit der Konfirmation oder Firmung vergleichbar ist – von lauter Musik, einer großen Party mit allen Freunden und Familie, leckerem Essen und unzähligen Geschenken.

Die Jugendlichen der Klasse 8.3 hörten gespannt zu und wollten noch von Jonatan wissen, wie er sich sein zukünftiges Leben vorstellt und waren dankbar für seine offene Antwort: „Langfristig hätte ich gerne eine jüdische Partnerin, weil ich mir eine jüdische Familie und Kinder wünsche.“ Er erzählte den Schülerinnen und Schülern in diesem Zusammenhang auch, dass die Religion im Judentum über die Mutter weitergegeben wird und es daher für seinen Traum einer jüdischen Familie nötig ist, eine jüdische Frau zu heiraten. Diese Familie kann er sich auch durchaus in Israel vorstellen, da er sich dort sehr wohlfühlt: „In Israel ist meine Seele, aber mein Leben ist derzeit in Deutschland“, erklärte er den Jugendlichen.

Alle achten Klassen zeigten sich sehr interessiert an den Gästen und waren überrascht davon, wie offen und authentisch die jungen Menschen ihre Perspektive schilderten. Auch die Klassen 7.3 und 7.5 konnten am 24. & 25. Juni vom Begegnungsprojekt Meet a Jew profitieren, bevor das Projekt im nächsten Schuljahr in den restlichen Klassen des derzeitigen Jahrgangs 7 an der IGS fortgeführt werden soll.